"Dana. Hier ist ein Kandidat." Fähnrich
Cassiano stand im abgedunkelten Kältedeck 4 über eine Kältekapsel
gebeugt und verglich den Inventarcode seines tragbaren Touchscreens mit den
Zahlen am Fuß der Kapsel.
"Eine Ärztin?"
"Ja. Gayle Nambala." Er wischte mit einem Ärmel den Reif von der Kapsel
und spähte durch das Glas auf die schemenhafte Gestalt in ihrem Inneren.
"32 Jahre alt, 115 Pfund. Scheint ziemlich gut in Form zu sein. Ach ja, ich
kann mich an sie erinnern
vermutlich der bestaussehendste Eisblock
auf diesem Deck. "
"Wirklich?" Dana blickte auf, er hatte ihre Neugier geweckt. "Wie sind ihre
Lebensfunktionen?"
"Besser geht's nicht. Soll ich sie aufwecken?"
"Ja." Dana schien das Interesse bereits wieder verloren zu haben und schlenderte
in einen ungewöhnlich dunklen Abschnitt im unteren Bereich des Decks.
Cassiano gab einen Code in den kleinen Computer-"Grabstein" am Kopfende der
Kapsel, ein, um die Aufwach-Sequenz zu initialisieren.
"Hey Dana, wußtest du, daß ich heute Geburtstag habe?"
"Herzlichen Glückwunsch", entgegnete sie ohne Ironie. "Wie fühlt
man sich mit 75?"
"75? Du meinst wegen unseres Nickerchens?" Für einen Augenblick verstummte
er und dachte über diese Vorstellung nach." Verdammt, ich bin alt."
"Vielleicht fühlst du dich damit etwas besser."
Seine Schnellverbindung signalisierte eine Nachricht und auf seinem tragbaren
Bildschirm erschien eine Geburtstagstorte. Einen Augenblick später kletterte
eine animierte Frau aus der Torte. Über ihrem Kopf prangte der Schriftzug
"Dr. Gayle Nambala". Er lächelte. "So, so. Und ich dachte, Sex am
Arbeitsplatz ist seit dem 20. Jahrhundert
"
"Oh, nein." Danas Stimme unterbrach seine Träumerei und er blickte auf.
Sie stand jetzt im nächsten Abschnitt des Kältedecks, der durch
eine Zwischenwand abgetrennt war. Er spürte, daß etwas nicht in
Ordnung war.
Schnell lief er auf Dana zu - hinein in ein Totenreich.
Dieser Abschnitt des Kältedecks schien vollkommen unbeleuchtet zu sein,
und auch das schwache bläuliche Licht der Kältekapseln war ausgefallen.
"Die Energieversorgung muß unterbrochen sein", hauchte Dana. Cassiano
war froh, daß er ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
Als sie weiterging folgte er ihr. Ihrem Auge bot sich ein schrecklicher Anblick:
Die unkontrolliert aufgetauten Kältekapseln hatten das Kältedeck
in einen schaurigen Friedhof Verwandelt. In den Kapseln schwammen verweste
Leichen in einer schleimigen Flüssigkeit.
"Jetzt haben wir Gewißheit", flüsterte er. "Es muß passiert
sein als
"
"Warte", Dana unterbrach ihn. Er sah sie auf eine Kapsel zugehen, die in
der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Sie stand auf einer Plattform,
etwas höher als die übrigen. Ein seltsam gelblich-oranges Licht
umspielte die Kapsel. Cassiano fühlte sich, als würde er eine Krypta
betreten oder einen Thron besteigen.
Wenn das Licht noch funktionierte, war möglicherweise auch die Kühlung
nicht ausgefallen.
Cassiano versuchte, Informationen zu dieser Kältekapsel über den
Touchscreen zu laden. "Kein Eintrag zu dieser Kapsel. Seltsam, selbst wenn
man den chaotischen Start bedenkt. Möglicherweise sind in den Datenbanken
einige Informationen gelöscht worden."
"Warum steht sie nicht bei den anderen?"
Cassiano zuckte mit den Achseln. "Sieht aus, als hätte sie gerade noch
Platz gehabt." Als er sich der Kapsel näherte, bemerkte er seine
schneeweißen Fingerknöchel, die immer noch auf dem Touchscreen
ruhten.
Dana hatte die Kapsel inzwischen erreicht. "Diese Plattform ist der
Energieverteiler, der diesen Abschnitt steuert. Eigentlich sollten hier nur
Vorratsbehälter lagern, doch offensichtlich hat man einen neuen Bewohner
einquartiert."
Cassiano spähte in die Kapsel. Er erkannte eine schemenhafte Gestalt,
verborgen im Schatten der Kapsel. Der "Grabstein" war deaktiviert. Er legte
seine Hand auf das Glas. Es war kalt. "Die Kühlung funktioniert, aber
der Computer scheint im Eimer zu sein. Er liefert keinerlei Daten. Hirn-
oder Gewebeschäden sind also nicht ausgeschlossen. Wenn er oder sie
aufgetaut ist und anschließend wieder ..."
Dana spielte an dem kleinen Computer herum, doch nichts geschah. Erneut sprach
Cassiano: "Ich werde einen Techniker rufen. Soll der doch den Computer
reparieren. Vorher können wir die Aufwachsequenz nicht ..."
"Gib mir einen Stift", unterbrach Dana. Cassiano reichte ihn ihr reflexartig.
"Und jetzt halt' einen Moment die Luft an."
Dana trennte den Computer von der Stromversorgung und untersuchte die Unterseite.
Sie steckte den Stift hinein und drehte ihn. Anschließend entfernte
sie die Rückwand des Gehäuses und berührte den Kontakt, der
auf einem winzigen Chip aus Bronze saß. Sie überbrückte den
Computer und das ausgesteckte Kabel.
Nach einem hörbaren 'Klick' stiegen im Inneren der Kältekapsel
Blasen auf. Cassiano beobachtete das heftige Sprudeln. Die Gestalt in der
Kapsel begann zu zucken. Er war fasziniert von diesem Anblick, der ihn
gleichzeitig abstieß.
Unter der Kältekapsel warf das seltsame gelbe Licht flackernde Schatten
auf den gleichmäßigen Glaskörper. Es schien, als würde
er von feingliedrigen Fingern umschlossen. Aber wen versuchten sie festzuhalten?
"Ich hätte nicht gedacht, daß das so schnell funktioniert",
flüsterte Dana. "Wir müssen Commander Lal informieren". Cassiano
nickte. Dana beobachtete das Geschehen noch einige Augenblicke, bevor sie
sich abwandte. "Vorwärts", befahl sie mit ruhiger Stimme.
"Sie bewundern Ihre Anführerin?"
Sicherheitsoffizier Anakkala, Yangs Bewacher, und gleichzeitig die Person,
an die Yangs Frage gerichtet war, biß die Zähne zusammen und blickte
starr in eine Richtung. Yang studierte jeden Teil ihres Körpers ...
die Verkrampfung ihrer Schultern, das nervöse Zupfen an ihrer
Splitterpistole, und das leichte Verkrampfen ihrer Zehen.
Er bog seine Handgelenke in den Fesseln, die ihm Santiagos Rebellen angelegt
hatten. Anakkala zuckte bei dieser Bewegung mit dem Kopf. Yang beobachtete
sie
ihre Anspannung war fühlbar. Anscheinend hatte Santiago ihre
Leute vor ihm gewarnt. Sein Ruf war zu einer Waffe geworden.
Er richtete den Blick auf seine Bewacherin. "Ich bin durstig." Er senkte
seine Augen und ließ in einer Geste der Unterwerfung seine Schultern
hängen. Plötzlich wurden seine Augen glasig und sein Mund öffnete
sich. Anakkala beobachtete ihn mit der typischen Verachtung des Starken für
den Schwachen.
"Was ist los mit Ihnen?" krächzte sie.
Er schüttelte sich und sah sie an. "Niederlage", sagte er. "Ich bin
in Ihrer Gewalt und Sie in Santiagos. Das Schiff ist jedoch in der Gewalt
von Kräften, die wir nicht beeinflussen können." Während er
sprach begann eines seiner Augen zu wandern. Fasziniert starrte sie ihn an.
"Auf der Erde lag unser Schicksal in unseren Händen. Sie und ich hatten
die Chance, unser Schicksal zu beeinflussen. Wir haben uns für dieses
Schiff und sein Versprechen entschieden."
"Ich darf nicht mit Ihnen sprechen", entgegnete Anakkala steif und löste
sich aus seinem bohrenden Blick. Sie begann, auf- und abzugehen.
Er sprach weitermit monotoner Stimme. "So groß ist also Ihr Glaube
an Santiago - eine meiner Untergebenen." Erneut sah sie ihm ins Gesicht.
Und wieder bewegte sich sein Auge. Fasziniert starrte sie es an und folgte
ihm willenlos. "Sie ergreift Besitz von Ihnen, so stark ist ihr Charisma.
Sie sehen sie an und empfinden Bewunderung. Ihr eigener Wille wird unbedeutend".
Anakkalas Atmung wurde langsamer, sie errötete und ihre dunkelblauen
Augen weiteten sich. Ihre Hände entspannten sich und auch die Anspannung
in ihren Schultern begann sich zu lösen.
"Sie wachen und denken an ihre Augen. Sie schlafen ...Sie schlafen und glauben
..." Sein stechender Blick verlor sich, doch sie verharrte weiterhin wie
eine Wachsfigur. Sie beobachtete ihn, beobachtete alles an ihm. "Sie glauben,
Santiago kann mich hier festhalten, aber vielleicht gelingt ihr das nicht."
Er hob seine Hände und teilte sie mühelos. Klappernd fielen die
Fesseln zu Boden. Anakkala ächzte und erhob ihre Waffe, doch ihre
aufgerissenen Augen waren starr, ihre Bewegungen wie in Trance.
"Merken Sie sich das Gesicht des Feindes." Er erhob sich und fuhr mit der
Hand über sein Gesicht. Dann ging er auf sie zu und berührte ihr
Gesicht. "Das ist das Gesicht des Feindes." Erneut berührte er ihr Gesicht,
streichelte sie und hauchte erneut mit flüsternder Stimme: "Das ist
das Gesicht des Feindes. Nun werde ich gehen".
Er drehte sich um und ging. "Stop!" Ein Schrei aus vollen, betäubten
Lippen hallte durch den Raum. Sie hob ihre Waffe und richtete sie auf ihn,
ihren Feind, den Feind, der sie selbst war. Sie fühlte das Zittern ihrer
Hände, als er mit teilnahmsloser Mine zurückkehrte. Dieses Gesicht
... sie drehte die Waffe. Ihr Handgelenk wehrte sich, als die Pistole sich
...auf ihr eigenes Gesicht richtete...
Es gab einen Knall, kurz und scharf. Yang sah gelassen zu, wie Anakkala feuerte
und sich ihr Gesicht in ein Gemisch aus Blut und Gewebefetzen verwandelte.
Ein kurzer Schauer durchlief ihn, als er an die Schönheit ihrer tiefblauen
Augen dachte.
Er trat an die Leiche heran und nahm die Berechtigungskarte aus ihrem
Gürtel. Alles war nur eine Illusion gewesen. Natürlich hatte er
immer noch gefesselte Hände und mußte sich befreien. Jetzt endlich
sah er eine Möglichkeit zur Flucht. Und auch die Waffe war für
sein Vorhaben sicherlich von Vorteil.
Er warf einen letzten Blick auf die Tote und eine seltsame Traurigkeit
überkam ihn.
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