Reise nach Centauri: 6. Kapitel
 
Captain John Garland wurde in der mannshohen Gyrokapsel durchgewirbelt. Diese Einrichtung galt als Haupttrainingseinheit im Schiff, die dafür sorgen sollte, daß das verbleibende Gift des langen Schlafes aus dem Körper gebrannt wurde. Die letzten beiden Tage waren voller hektischer Aktivitäten gewesen, als rot gekleidete Kältetechniker sich aus ihren Kältekammern erhoben und unter Doktor Zakharovs Regie die Reparaturarbeiten am Schiff begannen. Er erinnerte an einen General, der aus der Kommandozentrale heraus seine Truppen steuerte.

Eine Reihe von Tönen kündigte die letzten Sekunden seiner Sitzung an, die er mit einem Ausbruch letzter Anstrengung beantwortete, indem er alle Kraftreserven mobilisierte. Er war dankbar, als er die schwarzen und gelben Muster am Rande des Traininggeräts in rasender Geschwindigkeit aufleuchten sah. Der lange Schlußton erklang und verkündete das Ende der Sitzung. Er entspannte sich, und die Trainingskapsel kam allmählich zum Stillstand.

"Computer, anhalten und abschnallen", sagte er laut. Die Trainingskapsel machte eine letzte Halbdrehung, bevor er wieder in aufrechter Position einrastete. Er atmete hörbar aus ... diese Sitzung war wichtig gewesen, um die ganze Anspannung abzuschütteln, die er in der Kommandozentrale gesammelt hatte. Die Schnallen, die seine Hände, Füße und Taille fest in Position hielten, wurden auf das entsprechende Signal hin gelockert. Plötzlich blinkte eine rote Lampe über der Ausgangsluke auf.

"Ja bitte", sagte Garland, und die Luke öffnete sich. Eine junge Frau in roter Montur schaute halb durch die Luke und grüßte. Garland nickte nur, da er mit seinen fixierten Händen nicht in der Lage war, den Gruß zu erwidern. Plötzlich fühlte er sich verwundbar ... warum war er nur immer so nervös auf seinem Schiff?

"Captain, Officer Zakharov bat mich darum, Sie persönlich darüber zu informieren, daß er beabsichtigt, den Fusionsantrieb für einen kurzen Impulstest einzuschalten. Er möchte einen Impuls abfeuern und dann die Auswirkung auf die Schiffskonstruktion messen."

"Ist das eine gute Idee, Fähnrich Holloway?" Die Klammern wurden gelöst, und er stieg herab. Der junge Fähnrich griff reflexartig nach einem Handtuch und reichte es dem Captain.

"Doktor Zakharov hält es für erforderlich. Lieutenant Skye macht sich jedoch wegen der beschädigten Wände Sorgen, ganz besonders der Wände im Gewächshaus", antwortete sie und meinte damit das letzte noch intakte Hydrokultur-Modul.

Er nickte und wischte sich den Schweiß von Gesicht und Nacken. "Dann sollten wir die Sache besser noch diskutieren."

Ihre Augen wichen ihm aus. "Doktor Zakharov bereitete den Teststart bereits vor, als ich die Kommandobrücke verließ, Sir. Vielleicht ..."

"Wir werden sehen." Er schob sich durch die Luke und gab den Zugangscode für die Kommandobrücke in einen Wandlautsprecher ein. "Zakharov, brechen Sie die Tests ab. Wir werden nichts unternehmen, bis nicht alle einer Meinung sind."

"Meine Leute haben mir versichert, daß kein Risiko besteht, Captain. Wir müssen weitermachen mit unseren Reparaturarbeiten. Uns bleiben nur noch 37 Stunden, um den Antrieb zu reaktivieren, bevor alle Hoffnungen auf ein rechtzeitiges Anhalten des Schiffes zunichte sind."

"Ich sagte, brechen Sie die Tests ab, Doktor. Ist Lieutenant Skye nicht auch eine Ihrer Leute?"

Es folgte eine lange Pause, bevor Zakharovs Stimme durch die Lautsprecher polterte. "Nun gut. Kommen Sie zur Brücke zurück, damit wir das weiter diskutieren können." Die Verbindung wurde abgebrochen. Garland drehte sich ärgerlich zu der jungen Frau um, als er plötzlich sah, daß sie kerzengerade dastand und auf seinen Befehl wartete. Sie stand aufrecht, bereit, der Mission zu dienen, was auch immer geschehen mochte, aber er konnte die Angst in ihren Augen ablesen. Auch ein Kind würde die wachsenden Spannungen zwischen den Mitgliedern des Kommandopersonals spüren.

"Rühren, Fähnrich. Sie kennen das Schiff doch ... war Lieutenant Skye in der Kommandozentrale?"

"Nein, Sir. Das heißt, sie war, aber sie ist dann gegangen. Nachdem Sie ihre ... Bedenken zum Test geäußert hatte. Sir. "

Er nickte. "Danke, Fähnrich. Gehen Sie zurück an ihre Arbeit." Sie grüßte und ging. Er schaute ihr ein paar Augenblicke gedankenverloren nach, suchte in den Tiefen seines Gedächtnisses und hatte eine wage Ahnung ... Fähnrich Holloway. Er erinnerte sich nicht, ihren Namen auf der Liste der Notfall-Ingenieure gesehen zu haben. Einen Moment lang schloß er die Augen, dann aktivierte er das Sensorfeld unter dem Lautsprecher und gab eine private Textnachricht an Pravin Lal ein.

Pravin ... bitte überprüfen Sie die Nummern der Kältekammern, die durch Zakharovs Befehl geöffnet wurden. Höchstvertraulich. Er wartete einen Augenblick, beobachtete die leuchtenden Lettern auf demMonitor - es war ein Verdacht, der darauf wartete, bestätigt zu werden.

Nur eine Vorsichtsmaßnahme, dachte er und schickte die Nachricht ab. Er drehte sich weg und ging mit schnellem Schritt zu den Naßzellen.

Captain Garland betrat das Kommando-Modul und fühlte noch die Erleichterung nach der Entgiftung, als die Hitze und die Spannung, die durch die Krise ausgelöst wurden, ihn wieder überfiel. Pravin Lal saß immer noch über einen Monitor gebeugt, sein stets ruhiges Gesicht wirkte konzentriert. Zakharov beugte sich über einen anderen Monitor am anderen Ende des Raums, rechts und links von ihm zwei Mitglieder seines Personals, Fähnriche Khosa und Webb. Garland sah den Schweiß auf Zakharovs Stirn.

"Doktor Lal, Sie sind für vier Stunden freigestellt. Gönnen Sie sich ein wenig Ruhe und essen Sie etwas."

Pravin schaute auf, der Blick aus seinen tiefschwarzen Augen war für einen Moment verständnislos, immer noch ein wenig verloren in den Datenwolken des Computers.

"Verstanden, Sir, nur noch einen Moment, bitte. Ich suche immer noch nach den medizinischen Einträgen, um die Sie gebeten hatten."

Garland nickte. Keine Reaktion von Zakharov. "Dr. Zakharov, wie ist der Reparaturstatus?"

"Wir kommen vorwärts, Captain. Uns bleiben noch 36,4 Stunden." Er deutete mit seinem Finger auf einige weiße Zahlen, die auf einem Overhead-Monitor abliefen. "Mein Geschenk für Sie ... eine Uhr fürs Jüngste Gericht."

"Ich hoffe nicht. Ich denke nicht daran, noch weitere 5 Jahrzehnte mit Ihnen und Ihrer Crew im Weltraum zu verbringen."

Zakharov schaffte ein dünnes Lächeln. "Tatsächlich. Wir arbeiten rund um die Uhr, aber wir müssen dringend diesen Test durchführen. Er ist ein wenig riskant, das gebe ich zu, aber er ist unbedingt notwendig ..."

"Verstehe, aber wir können nicht das Risiko weiterer Beschädigungen des Schiffs oder der übrigen Crew auf uns nehmen. Schicken Sie fünf Ihrer besten Leute zum Hydrokultur-Modul 1 und lassen Sie den Rumpf ausmessen. Finden Sie heraus, was Skye Sorgen bereitet. Ich denke, es stehen mehr als nur unsere Leben auf dem Spiel."

Zakharov nickte zustimmend. "Okay." Er gab ein paar gutturale Befehle in den Kommunikator am Handgelenk. Er sprach sehr schnell und durchsetzte seine Anweisungen mit soviel technischem Jargon, daß es sich für Garland wie eine fremde Sprache anhörte.

Zakharov beendete seine Aufträge und schaute auf, als wolle er im Gesicht des Captains lesen. "Ich habe hier etwas, das Sie möglicherweise interessieren könnte, Captain."

Garland ging zu Zakharov hinüber.

"Fähnrich Khosa hat die gesamten Schiffsdaten durchgescannt, um das D7-Material zu dekomprimieren, das von den externen Kameras aufgezeichnet wurde. Wir begannen mit der Analyse des Video-Materials kurz vor dem Zeitpunkt, an dem die Schäden an der Außenhülle des Schiffes entstanden ... kurz bevor zwei der Kameras abgeschaltet wurden. Sehen Sie."

Auf Zakharovs Bildschirm erschienen ein paar kleine, hochauflösende Bilder, Aufzeichnungen von den vielen Kameras, die innerhalb und außerhalb des Schiffs angebracht waren und für jede Sekunde der Reise komprimierte Bilder aufzeichneten. Zakharov tippte auf eines der Bilder, so daß dieses vergrößert wurde. Garland schaute genauer hin.

Das Bild zeigte die äußere Umgebung des Schiffs, Metall, das sich im weichen Bogen in einem von Menschenhand geschaffenen Horizont verlor. Eine Datenausgabe gab die Geschwindigkeit des Schiffes an ... 3359 Kilometer pro Sekunde, ein enorm hohes Tempo.

"Wir kannten alle das Risiko", murmelte Zakharov, als ob er Garlands Gedanken lesen könnte. "Der kleinste Partikel, der das Schiff bei der Geschwindigkeit treffen würde, würde sich wie ein Atombombeneinschlag auswirken."

Ein paar Augenblicke vergingen, und plötzlich ...

Eine der Kameras stellte automatisch scharf und zoomte, verfolgte einen Fremdkörper innerhalb ihres Blickwinkels. Garland lehnte sich nach vorne, sein Atem beschleunigte sich ... die Vergrößerung der Kamera nahm rasch zu, und es sah immer noch so aus, als wäre da gar nichts, oder vielleicht ein Körnchen, ein kleines Fragment eines Minerals, das durch die unendliche Dunkelheit taumelte ...

Ungewollt hob Garland die Hand ... ein dunkler Blitz erfüllte die Kamera, die plötzlich ruckelte und auf Schnee schaltete. Zakharov wechselte schnell auf eine andere Kamera, und Garland beobachtete, wie die Seite des Schiffs aufgerissen wurde, wie Metall barst und zersplitterte, als wenn es von tausend unsichtbaren Drachen zerrissen würde.

Er versuchte, die Explosion zu hören, das Zersplittern des Metalls und die Sirenen. Er stellte sich das Chaos im Schiff vor, wie die Kältekammern durchgeschüttelt, die Leben auf dem metallenen Boden grausam beendet wurden, aber natürlich war nichts zu hören. Seine Kehle schnürte sich zu, als ihm das Ausmaß des Vorfalls bewußt wurde ... seine Crew, sein Schiff, die Leben, die ihm anvertraut waren, zerrissen, während er nichts ahnend schlief.

Garland schaute hinüber zu Zakharov, der den Monitor mit finsterer Miene beobachtete, sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und berechnete die Zerstörung. Garland sprach:

"Ich denke, das war sehr aufschlußreich."

"Wir versuchen damit, die Bereiche mit den schlimmsten Zerstörungen ausfindig zu machen. Es war nur ein kleiner Weltraum-Partikel, nur ein dummer Zufall."

"Bringen Sie das Filmmaterial zum primären Logbuch und markieren Sie es ... warten Sie." Garland lehnte sich erneut nach vorne und deutete auf eine Kameransicht, unten in der linken Ecke des Monitors. "Was ist das?" Er tippte auf das Bild, um es zu vergrößern, damit Zakharov es besser sehen konnte.

Einige Etagen tiefer, unten im Schiff bewegten sich Gestalten, taumelnd, in dem Versuch, sich nach dem heftigen Einschlag wieder aufzurichten. Dunkle Gestalten, schattengleich, auch wenn sie hektisch versuchten, sich auf einander aufmerksam machten.

Garland beobachtete, wie sich eine der Gestalten plötzlich aufrichtete und schnell bewegte, dann aber im Schutz der Dunkelheit verschwand, gefolgt von einer weiteren.

Und noch einer.

Und noch einer.

Dann, ganz plötzlich, ging die Kamera aus, schaltete auf Schnee.

"Ich wußte es", flüsterte Garland, als er den statischen Tanz der Partikel auf dem Monitor betrachtete.

  Logbuch - Eintrag,
Pravin Lal, Chef - Chirurg.

Zur Zeit assistiere ich Zakharovs Leuten
dabei, das Bildmaterial seit Beginn der Reise
auszuwerten. Auch wenn die Daten uns
vermutlich nicht viel Informationen liefern
werden, üben sie auf mich eine gewisse
Faszination aus. Sie sind unsere Geschichte
und dokumentieren den Teil unserer
Vergangenheit, den wir verschliefen. Wenn man
so will, den Prolog unseres nächsten Kapitels.

In den meisten Fällen zeigen sie nur Schwärze,
Kälte, Leere, Unendlichkeit.

Zakharovs Leute sind wach und haben ihren
Schlaf offensichtlich gut verkraftet. Ich habe
ihnen Stimulanzien verabreicht, damit sie
besser arbeiten können. Wir müssen jede sich
uns bietende Möglichkeit in den kommenden
Tagen nutzen.